- Populäre Musik - Musik, die \(fast\) alle hören
- Populäre Musik - Musik, die (fast) alle hörenOb wir in der Disco, beim Jazzabend oder im Neue-Musik-Konzert in der Kunsthalle mit anderen Menschen ein Publikum bilden - stets kommt es zu einer partiellen Identität von Orten, Inhalten und Personen. Der Rocker ist eher selten im Sinfoniekonzert zu finden, dort wird kaum Heavy Metal aufgeführt, und umgekehrt hat der Herr Oberstudienrat vermutlich mit Techno »nix am Hut«. Neben der Hochkulturszene, die seit der Emanzipation des Bürgertums bis heute von selbstbewusster Kontinuität ist, gibt es bekanntlich völlig anders geartete Szenen - und das nicht erst heutzutage.In den wilden Zwanzigerjahren etwa bevölkerte das erlebnishungrig-intellektuelle Publikum die Kabaretts und Varietees in Großstädten wie Wien, Paris und Berlin. Zurückblickende Filme wie »Cabaret« oder Walter Kempowskis Roman »Tadellöser & Wolff« geben einen lebendigen Einblick in eine vergangene Welt, deren provokative Abweichungshaltung sich in Jazz und langen Haaren, legerem Habitus und skeptischer Lebensphilosophie äußerte. Unter den Nationalsozialisten wurde diese »dekadente«, oft »entartet« genannte Szene mit ihrem hohen Anteil an jüdischen Künstlern und Intellektuellen nicht toleriert. Exil, Deportation oder eben Anpassung waren das Schicksal für viele.Die in der Erlebnisgesellschaft der Gegenwart zu beobachtende Ablösung des »Elite-gegen-Masse«-Denkens vom Paradigma der Lebensstile und die damit einhergehende Parallelisierung der kulturellen Präferenzen ändert nichts daran, dass Kultur nach wie vor ein Mittel der Distribution ist: »Man braucht sich nur vor Augen zu führen, dass es keine Praxis gibt, die stärker klassifizierend, distinktiv, das heißt enger an die soziale Klasse und den Besitz von Bildungskapital gebunden ist als der regelmäßige Konzertbesuch oder das Spielen eines Musikinstrumentes«, diagnostiziert der französische Kultursoziologe Pierre Bourdieu. Kultur und damit unsere unterschiedlichen kulturell-ästhetischen Praktiken sind eben grundsätzlich kein Mittel der Emanzipation - auch wenn wir sie gerne so imaginieren -, sondern in erster Linie Mittel des Kämpfens um Macht, des Abgrenzens und der Anpassung.Dies lässt in voller Schärfe exemplarisch der Bereich der Populären Musik zu Tage treten. Denn wer hat hier die Definitionsmacht zu entscheiden, was »seriös« ist und was »illegitim«? Und was sind die Folgen, wenn überwiegend Angehörige der intellektuellen Bildungselite auf die ästhetischen Präferenzen der »sozialen Niederungen« herabblicken? Seit 1976 vergibt die Deutsche Phono-Akademie Preise auch für Musical, Operette, Chanson und Kleinkunst, Rock und Pop, volkstümliche Unterhaltung, Kabarett und Folklore. Doch was der Begriff »Populäre Musik« genau meint, ist angesichts dieser Vielfalt alles andere als klar. Ist es all die Musik, die einfach weit verbreitet ist, von Operette und Musical bis zu den Liedern von Heino? Ist es schlicht ein Sammelbegriff für alle kommerzielle Musik, ist es eine raffinierte Finte des Kapitals zur Stabilisierung bestehender Machtverhältnisse oder subkulturelles Widerstandspotenzial; oder ist es alles, was »knallt, platzt, wohlig aufstößt, Freude macht«, wie ein weiterer Definitionsversuch lautet: bis heute ist strittig, ob etwa das Kürzel »Popmusik« schlichtweg eine Abkürzung für »populäre Musik« ist oder durch Konnotationen wie »Rebellion« und »Protest« eher in direkter Opposition dazu steht.Sicher ist, dass die Vielfalt der populären Musiken im 20. Jahrhundert vom Tango bis zu Techno, von Musical bis Videoclip, spezifische Teilbereiche einer pluralistischen »Gesamtkultur« abdeckt. Das, was die Bezeichnung des »Populären« umfasst, hat offensichtlich epochen- und stilübergreifene Dimensionen, entzieht sich der gängigen E-U-Dichotomie und weist auf den grundsätzlichen Ort von Musik als kultureller Praxis im Beziehungsgefüge von Individuum und Gesellschaft hin. Was beispielsweise für Musikhörer des frühen 19. Jahrhunderts populär war, ist kaum populäre Musik für gegenwärtige Musikhörer; Góreckis »Sinfonie der Klagelieder« (1976) gelangte Anfang der Neunzigerjahre in die Hitparaden genauso wie kurz darauf Disco-Versionen gregorianischer Gesänge wie etwa Produktionen von »Enigma«. Für die Freunde zeitgenössischer elektronischer Musik war Stockhausens »Gesang der Jünglinge« ein Hit, andere bevorzugten Pink Floyds elektronikumhüllte Auftritte in den Ruinen von Pompeji. In einer exemplarischen Befragung 1995 wurde ein Tango der Zwanzigerjahre als um einiges »populärer« als Mozarts»Kleine Nachtmusik«, diese wiederum »populärer« als Musik von Frank Zappa bewertet.Auffällig ist, dass der alte Gegensatz zwischen »echter« und »trivialer« beziehungsweise »kommerzieller« Kunst auch im populären Bereich vielfältig neu konstituiert wird: Anthologien der Beatles und anderer Rockheroen gelten manchen als Klassiker, »wertloser« Schlager wird von Mainstream und höher wertigem Pop und Rock sowie den Spielarten des Jazz qualitativ zu unterscheiden gesucht. Bestimmte Arten der Populärmusik können sich aber auch bewusst mit dem Image des Unpopulären verbinden. So haben beispielsweise für Underground-Hörer heute keineswegs mehr generell jede Rock- und Pop-Musik die Signalfunktion des Sich-Nicht-Anpassen-Wollens, sondern nur noch Independent-Musik der verschiedenen Szenen wie Gothic, Hip-Hop und Punk. In Opposition zum abgelehnten »Kommerzsound« der Mehrzahl der Popmusik-Veröffentlichungen wird Independent-Musik auch als »unpopuläre Populärmusik«, ja gar als »Avantgarde« der Popmusik tituliert. Vom kommerziellen Durchbruch ihrer Bands fühlen sich die eingefleischten Fans der Underground-Teilkulturen richtiggehend »verraten«.Die Unterscheidung von E- und U-Musik, ernster und unterhaltender, spielt auch bei der Verteilung von Geldern aus dem Urheberrechtsschutz eine nicht zu unterschätzende Rolle. Nationale Verwertungsgesellschaften, in Deutschland seit 1945 die »Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte« (GEMA) wachen über die Einhaltung des Urheberrechts im Konzertsaal, in der Disco und sogar bei manchem Adventssingen im Altenheim.Auch die Erwartungshaltung der Hörer wird durch diese allgegenwärtige Spaltung der Musik bestimmt. So wird Gidon Kremers Violinspiel als E-Musik rezipiert, auch wenn er Tangos geigt, eine Sinfonie von George Harrison hingegen gilt immer als U-Musik. Andererseits meinen immer mehr Musik-Liebhaber und Kulturträger, Musik diene der Rekreation und Entspannung, und sie bedienen sich wie selbstverständlich in den beiden Branchen der geölten Maschinerie des Musikbetriebes.Die Frage ist, ob das manchmal recht unverbindliche Nebeneinander unterschiedlichster Musiken in zahlreichen Musikfestivals, Konzert- und Radioprogrammen Ausdruck eines kunstgewerblichen Ästhetizismus ist, der es für intelligentes Amusement hält, Jazz neben gängigen Werken der Gegenwart und Barockhits neben Klassikrennern anzubieten. Sind wir damit tatsächlich in eine Idee von Kunst zurückgefallen, die Musik und Malerei in eine Reihe mit Goldschmiedekunst, Gartenkunst und anderes stellt - als bloss unterhaltendes, schmückendes und erfreuendes Kunstgewerbe? Ist gar, wie der Komponist Karlheinz Stockhausen einmal aufstöhnte - und das sicher nicht, ohne dabei auch an die Rezeption seines eigenen Werkes zu denken -, »die berühmte deutsche Kultur. .. nichts anderes als. .. der letzte Coca-Cola-Abklatsch?« Wenn Spezialisten der Neuen Musik wie Hans Zender die »schöpferische, verändernde Möglichkeit« gegenwärtiger Musik »gerade in ihrem Sich-Abheben« vom »Ungeist des heute herrschenden Entertainment« sehen, bleibt eigentlich alles zu klären: Ob denn gegenwärtig wirklich »nur« Entertainment herrsche, ja was eigentlich so verstandenes »Entertainment« sei, welches die Kriterien des beschworenen »Ungeists« in der vielfältigen Welt der Populären Musik seien, wie das »Sich-Abheben« der Neuen Musik kompositorisch vollzogen werde, welche Konsequenzen dies habe, und welche Alternativen es gebe. Bleiben also dem produktiven Künstler der Gegenwart tatsächlich nur die beiden Wege, entweder »Teil der unverbindlichen Unterhaltungskultur« zu werden, oder mit Neuer Musik in Zenders Sinne gegen den geistig-gesellschaftlichen Strom zu schwimmen? Die Sehnsucht nach Auswegen wächst.Prof. Dr. Hartmut Möller
Universal-Lexikon. 2012.